LESEPROBE
"Klappe zu - Balg tot"
Ich sollte zum Kuckuck gehen, von dem ich’s doch hätte. Das Balg wegmachen, hat er gesagt. Das Wort hat sich in meinem Kopf festgesetzt wie ein kleiner Knubbel, über den meine Gedanken ins Stolpern gerieten, wenn ich nicht darauf achtete ihm aus dem Weg zu gehen. Immer wieder geriet er mir ins Getriebe, wenn ich mich auf etwas zu konzentrieren versuchte. Dann ließ ich Aufträge Aufträge sein und die Bestellannahmen tanzten mit den Reklamationen einen munteren Reigen auf dem Monitor, ich starrte aus tränenlosen, nächtens leer geweinten Augen auf die Tastatur, bis es meinem Chef zu bunt wurde und er mich mit Wirkung zum nächsten Ersten rausschmiss.
Am anderen Morgen blieb ich gleich im Bett liegen. Das machte es nicht besser, denn jetzt blähte sich das Balg in meinem Kopf auf und schlug alles tot, was da jemals gewesen war. Mein Bauch blähte sich auch. Von Woche zu Woche wurde er dicker, obwohl ich nicht mehr viel aß. Von Zeit zu Zeit zwang ich mich aufzustehen und zum Einkaufen oder zum Arbeitsamt zu gehen. Es gab sowieso keinen Job für mich, auch ohne dass ich etwas von meinen Zustand verriet. Es wurde Herbst und ich wickelte mich in immer dickere Schichten, die das Balg vor neugierigen Blicken schützten. Ans Telefon ging ich nur noch, wenn ich die Nummer kannte. Ja, Mama, es geht mir gut. Nein, Mama, wir haben nur ziemlich viel zu tun. Ich werde es dieses Jahr nicht mehr schaffen, dich und Papa zu besuchen Mama, ich kriege keinen Urlaub mehr. Meistens ließ ich es einfach nur klingeln. Die Anrufe wurden seltener.
Er ließ sich nicht mehr blicken und rief auch nicht an. Besser so.
Das Balg begann zu strampeln. Erst dachte ich, ich hätte Blähungen. Aber irgendwann war es klar, was es war. Ich stellte mir vor, wie es sich da fühlen musste, und irgendwie konnte ich gar keinen Unterschied erkennen. Ich hatte genauso ein Gefühl, wie wenn ich eingeschlossen wär’, als wenn da eine dicke Mauer um mich wär’, die mir Luft und Licht nahm und es mir unmöglich machte, noch irgendjemanden zu sehen.
Im Fernsehen hab ich mir eine Sendung angeguckt, da waren Bilder von solchen Würmern, die im Fruchtwasser schwammen. Hätten auch eingelegte Krabben sein können, sie zuckten halt nur manchmal. Ich hatte selbst das Gefühl, wie wenn ich untergetaucht wäre, nur schummriges Wasser um mich rum, in dem ich bewegungslos rumdümpelte. Okay, ich hab wohl ein bisschen viel getrunken in der Zeit. Alles ging irgendwie einfach völlig an mir vorbei. Ich hasste das Balg dafür.
Dann klingelte irgendwann abends das Telefon, und es war seine Nummer auf dem Display. Ich hab das Telefon angestarrt wie ein Alien. Es hat einfach nicht mehr aufgehört. Ich hab die ganze Zeit gedacht, gleich kommt er aus dem Apparat, und wo ich mich verstecken könnte. Was wollte er von mir? Ich hatte mich jetzt ein halbes Jahr verkrochen, ging nur noch vor die Tür, wenn ich’s vor Hunger und Durst nicht mehr aushielt. Die meiste Zeit hab ich an der Heizung gekauert, weil’s mittlerweile saukalt war. Als der Apparat endlich aufhörte zu klingeln, hab ich ihn genommen und mit aller Kraft gegen die Wand geschmissen. Er ist auseinandergebrochen und ich hab ihn liegen gelassen, froh, dass keiner mehr anrufen konnte. Am nächsten Mittag hab ich mir eine Flasche Wodka besorgt, die hab ich mit O-Saft gestreckt und mir reingezogen.
In der Nacht ist es passiert. Ich weiß so gut wie nichts mehr davon, außer dass ich hundekaputt war und wegtauchen wollte, aber da kam dieser Schmerz, und der wurde immer schlimmer, bis ich dachte, ich sterbe, mir zerreißt es den Leib. Ich glaub, ich war die meiste Zeit ohnmächtig, nur wenn das wieder losging, das war, wie wenn mich jemand aus dem Tiefschlaf gerissen hätte und an mir gezerrt hätte, irgendein großes Raubtier, das mir Zähne und Klauen in den Bauch hieb, dass ich vor lauter Schmerzen nicht mehr Luft zum Schreien kriegte. Ich bin schließlich auf allen Vieren zum Bad gekrabbelt, hab alle Handtücher rausgerissen, sie mir zwischen die Beine gestopft, mich gewälzt, aber es hat nichts geholfen. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Ich muss völlig weggetreten sein.
Als ich wieder zu mir kam, war mir kalt und da war dieses Bündel. Ein besudeltes Würmchen, wie ausgekotzt, mit der Nabelschnur, als wenn ihm der Darm aus dem Bauch getreten wär’. Ich hab das Ding vorsichtig angefasst und gesehen, dass es einen kleinen Pimmel hatte. Und dann hat es das Gesicht verzogen und die Ärmchen bewegt. Es lebte also. Ich hab es in eins der Handtücher gewickelt und mich erst mal an der Badewanne hochzuziehen versucht. Dann hab ich mich vorsichtig mit warmem Wasser abgeduscht. Ich war ja selbst völlig ausgekotzt.
Das Ding winselte. Ich hab Garn und ein großes Küchenmesser geholt und die Schnur abgebunden und durchgeschnitten. Von dem Geräusch, wie das Messer durch das Gewebe schnitt, wurde mir übel. Die Nachgeburt hab ich in ein Handtuch gewickelt und in eine Plastiktüte gepackt. Dann hab ich mich erbrochen. Aber danach ging’s mir besser. Ich hab das Würmchen gewaschen. Über dem Waschbecken. Ich hab’s mit warmem Wasser vollaufen lassen und dann hab ich’s rein gehalten. Es war so winzig, dass ich es ganz untertauchen konnte. Es hat sich so gestreckt dabei und sah aus, als wenn es lächelte. Da konnte ich es nicht machen.
Ich hab’s wieder rausgeholt und vorsichtig abgetrocknet. Und in ein Handtuch gewickelt. Und noch eins drüber. So dass es ganz bedeckt war. Dann hab ich es zum Bett getragen und aufs Kissen gelegt und die Decke über das Bündel gezogen. Ich hab mich daneben gelegt und gewartet. Nach einer Weile hab ich etwas gehört, und da hab ich die Decke wieder weggerissen. Ich hab sein Gesichtchen rausgucken sehen, ganz friedlich. Es schlief. Da hab ich auch die Augen zugemacht.
Als ich wieder wach wurde, war es stockdunkel. Da wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich hab mich warm angezogen, hab das Ding dick eingemummelt und mir unter die Jacke gesteckt, so dass es noch Luft kriegen musste. Das Laufen fiel mir schwer. Aber ich bin zur nächsten Bushaltestelle gegangen, in die U-Bahn umgestiegen, und dann waren es nur noch ein paar Minuten zu laufen. Die Hinweisschilder waren nicht leicht zu finden. Erst bin ich in die falsche Richtung um das Gebäude gelaufen. Aber dann hab ich die Stelle gefunden. Sie war hinter einer hohen Hecke. Ein bisschen sah es aus wie ein Gepäckschließfach. Aber hinter der Scheibe konnte man ein kleines Bettchen sehen da stand dick drauf "Babyklappe". Ich versuchte sie zu öffnen, aber die Klappe hakte. Ich hab gezerrt und gedrückt. Keine Chance. Hätte ich einen Stein suchen sollen und die Scheibe einschlagen? Dann wäre die Hölle los gewesen. Auf dem Weg hab ich Schritte gehört. Da hab ich das Bündel einfach vor der Klappe abgelegt. Meine Jacke hab ich ausgezogen und noch drum gewickelt. Und dann bin ich ganz schnell weggegangen. Ich hab gefroren wie Hund, und jeder Schritt tat mir weh. Zum Glück war die Bahn fast leer und der Bus auch. Als ich ausstieg, fing es gerade an zu schneien. Lauter flauschige Flöckchen, die sich auf die Erde legten wie eine warme Decke. Ich bin nach Hause gelaufen, hab mich in die Decke vor die Heizung gekuschelt und bin gleich eingeschlafen.
Mein knurrender Magen weckte mich, und ich hab was zu essen gesucht. Im Schrank waren noch eine Dose Tomatenmark und ein Glas Oliven. Die hab ich mir reingezogen, vor dem Fernseher. Die Nachrichten kamen, und da war dieser Mann, der sagte, man habe ein totes Kind gefunden. Vor der Babyklappe. In der Nacht von gestern auf heute. Es habe Frost gegeben. Das Datum war rechts oben neben ihm eingeblendet. 25. Dezember.
Es klingelte. Ich hab gedacht, da sind die Bullen, die holen mich jetzt. Ich wusste nicht, wohin. Da bin ich ins Bad und hab mich eingeschlossen. Nach einer Weile hörte das Klingeln auf. Stattdessen hat jemand die Tür geöffnet, und ich hab Schritte im Flur gehört. Ich hab mich umgeguckt, und dann hab ich das Messer da liegen sehen. Ich dachte, ich schneide mir jetzt die Pulsadern auf. Aber ich konnte das nicht. Jemand rief meinen Namen. Er war es! Er hatte immer noch den Schlüssel!
Er hat die Klinke von der Badezimmertür runtergedrückt und daran gerüttelt. "Mia!", hat er gerufen, "ich muss dich sprechen!"
Ich hab nicht geantwortet. Was denn auch?
"Bitte mach auf, Mia", hat er gesagt und seine Stimme klang auf einmal flehentlich. "Ich hab drüber nachgedacht. Es ist mir egal, von wem das Kind ist. Ich möchte, dass du zu mir zurückkommst!"
Da konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich hab angefangen laut zu lachen. Vielleicht hab ich auch geschrien, keine Ahnung es ist so aus mir raus gebrochen. Alles ist auf einmal von mir abgefallen. Ich hab mich eiskalt gefühlt und so stark, so stahlhart, dass ich wie ein Messer durch die ganze Welt hätte hindurch fahren können. Ich habe ganz ruhig den Schlüssel rumgedreht und die Tür geöffnet. Da stand er. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, ist er in die Knie gegangen. Er ist tatsächlich vor mir auf die Knie gefallen und hat die Hände hoch gehoben, als wollte er um Hilfe bitten.
"Was ist mit dir?", hat er gestammelt, "was ist mit dem Kind?"
Ich bin ganz nah an ihn ran getreten und hab mich über ihn gebeugt, ganz dicht über sein Gesicht. "Das Kind?", hab ich gesagt, nein geschrien hab ich’s wohl eher, "das Kind? – Das Balg wolltest du wohl sagen! Das waren deine Worte, Josef, nicht wahr?"
"Maria", stammelte er. Ich las in seinen Augen, dass er immer noch nicht ganz verstanden hatte.
"Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen", hab ich ganz ruhig gesagt. Und dann hab ich zugestochen.