LESEPROBE

"Hüpfekästchen"

Wenn Lisa vom Balkon runterguckt, sieht sie die Menschen ziemlich klein unten am Haus vorbeigehen. Sie kann auch die Kinder sehen, die auf dem Bürgersteig mit Kreide Hüpfekästchen aufgemalt haben. Sie werfen einen Stein in ein Kästchen und hüpfen hinterher. Den Stein kann Lisa nicht sehen, auch nicht wenn sie sich ganz weit vorbeugt. Aber sie sieht die Handbewegungen der Kinder und manchmal ist sie auch unten vorbeigekommen, wenn die Kinder Hüpfekästchen spielten.
Sie hat Thomas von den Kindern erzählt und Thomas hat sich das Spiel genau erklären lassen. Er hat auf seinem Millimeterpapier eine Zeichnung angefertigt von den Hüpfekästchen und dann hat er einen Pfeil gezeichnet für den Stein, wo der Stein hingeworfen wird.

Lisa hat ihm von dem Klappern der Holzschuhe auf den Bürgersteigplatten erzählt und von den hohen Stimmen der Kinder, die sich beim Hüpfen überschlagen. Sie singen ein Lied in ihrer Heimatsprache dazu im Rhythmus ihrer Holzschuhe, die von Kästchen zu Kästchen hüpfen. Aber Thomas wollte nichts von dem Klappern und dem Lied wissen und auch nichts von den großen Schleifen, die die Mädchen auf dem Kopf trugen und die beim Hüpfen auf und nieder wippten. Er liebt Winkel und Beträge und Berechnungen und Kräfte, keine Töne und wippenden Schleifen.
"Interessant", hat Thomas gesagt. Er ist früher gewiss nie auf Bürgersteigen gehüpft. Er ist auf liniiertem Kästchenpapier entworfen worden, hat vierzehntausendzweihundertundvierzig mal seinen Körper in einem rechteckigen Bett in die Waagerechte gebracht und hatte dabei bestimmt noch nie Alpträume. Tagsüber arbeitet er an dem Schreibtisch, der vor einem Jahr noch Lisas Vater gehört hat, und zeichnet Grundrisse und rechnet Beton mal Schrauben dividiert durch Lüftungsschächte.

Lisa möchte so gern den Stein in dem Kästchen sehen können. Sie spürt einen Stein in ihrem Bauch, und wenn sie sich noch weiter vorbeugt, dann könnte ihr Stein – kantipper-kantapper – ins Rutschen geraten und sie nach unten ziehen. Also geht sie in die Hocke, klammert sich am Geländer fest und versucht, das Gesicht zwischen die Stäbe zu pressen, um hinunter gucken zu können.

Da ruft Mutti an.
"Lisa, mein Schatz", sagt Mutti, "es wird doch noch einen Tag länger dauern", sagt sie. "Kannst du das Thomas bitte ausrichten? Ich hoffe, er ist mir nicht böse. Ich versuche ihn später noch mal anzurufen. Ich komme dann am Samstag."
"Ja", sagt Lisa.
"Alles in Ordnung, mein Liebes?", fragt Mutti besorgt.
"Ja", wiederholt Lisa.
"Wie war es in der Schule? Habt ihr eine Arbeit geschrieben?"
"Mathe", sagt Lisa.

"Oh je", sagt Mutti.

"Vektoren", sagt Lisa.

"Ach Gott", sagt Mutti, "konnte Thomas dir das nicht erklären?"

"Ich hab ihn nicht gefragt."

Mutti lacht. "Ist auch besser so. Er hätte dich nur noch mehr fertig gemacht."

"Ja", sagt Lisa.

"Du darfst ihm das nicht übel nehmen. Er ist nun mal so", bittet Mutti. "Wir können froh sein, dass er da ist."

Dazu sagt Lisa nichts.

"Nimm es nicht so tragisch", sagt Mutti noch. Dann legt sie auf.

Lisa denkt an die Vektoren. Sie sieht Thomas’ nackte Oberschenkel, die einen Winkel bilden. Und dazwischen ragt dieser Pfeil auf, eine gerichtete Kraft. Das ist keine mathematische Größe. Das tut weh. Lisa weiß nicht, wie sie Mutti das erklären soll, wenn sie zurückkommt. Thomas hat ihr gesagt, da gibt es nichts zu erklären, weil sie es selbst schuld ist, und deshalb soll sie kein Wort darüber verlieren. Für ihn ist das eine klare Rechnung: Ursache Wirkung Folgen Schlussfolgerungen Tatsachen. Und Lisa hat diesen Stein im Bauch und würde lieber mit den Kindern unten Hüpfekästchen spielen. Aber sie hat den Stein verschluckt und er wird nie wieder herauskommen.

Wenn Lisa sich ganz weit über das Geländer beugt, dann kann sie den Pfeil in der Luft erkennen, der in das Hüpfekästchen weist, dahin, wohin sie ihren Stein fallen lassen muss. Sie weiß, dass sie den Kindern das Spiel verderben wird, wenn sie einfach so dazukommt. Aber sie kann nicht anders. Sie beugt sich jetzt so weit vor, bis die Richtung stimmt.

Und dann hüpft sie. 

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